Das Kulturelle Erbe im Digitalen Zeitalter
Hans-Dieter Ehrich
Dokumente wie Bücher, Bilder, Filme, Tonaufnahmen, Internet-seiten, Emails, Blogs, Chats, amtliche Dokumente wie Anträge, Bewilligungen, Steuererklärungen, aber auch Verträge, Gerichtsprotokolle, Behördenakten, Geschäftsunterlagen usw. usw. liegen zunehmend in digitaler Form vor. Oft gibt es keine Papierfassungen mehr. Dies gilt insbesondere für den steten Strom der Massen-daten, die aus den Beobachtungs- und Messstationen sowie den Labors der Naturwissenschaften und Technik, den Einrichtungen der Medizin, den sozialen Medien u.s.w. anfallen.
Darunter sind Kulturgüter, die es wert sind, bewahrt zu werden. Aber wie destilliert man sie heraus? Und wie bewahrt man sie langfristig auf?
Zuweilen bröselt das Papier historischer Dokumente, und Museen und Bibliotheken beeilen sich, sie zu digitalisieren und so vor dem Verfall zu sichern. Dies ist aber nicht der einzige Grund für Digitalisierung: Kulturgüter werden auf breiter Front in digitalen Bibliotheken erfasst, um sie einem größeren Nutzerkreis zugänglich zu machen, ohne die Originale (und die Nutzer) zu strapazieren.
Aber wie nachhaltig ist das?
Digitale Speichermedien wie Festplatten, Halbleiterspeicher, CDs, DVDs, Magnetbänder etc. haben eine begrenzte Lebensdauer, oft nur wenige Jahre, allenfalls Jahrzehnte - viel zu kurz in historischer Perspektive. Und um sie lesen zu können, braucht es Hard- und Software, die noch vor dem Verfall der Medien veralten und obsolet werden kann, so dass das Auslesen unmöglich wird.
Cloud-Speicher haben keine technisch begrenzte Lebensdauer, erfordern aber eine aufwändige Infrastruktur mit ständig zu erneuernder Hard- und Softwarebasis, und sie brauchen eine Organisation mit Technikern, Managern, Kaufleuten, Verwaltungsangestellten u.s.w. Sie werden meist von kommerziellen Unternehmen wie Microsoft, Google, Dropbox u.a. angeboten. Aber diese betreiben die Speicher nach kommerziellen Gesichtspunkten. Wenn sich das Geschäft nicht mehr lohnt, könnten sie den Dienst einstellen. Es empfiehlt sich also nicht, sie für die Bewahrung von Kulturgütern in Anspruch zu nehmen.
Wie also bewahren wir unser digitales Erbe und machen es den nachfolgenden Generationen in hunderten, womöglich tausenden von Jahren zugänglich? Tontafeln waren super, (richtiges) Papier war gut. Aber es ist wohl keine gute Idee, unser digitales Erbe in Tontafeln zu ritzen oder auf Papier zu drucken.
Das Problem hat natürlich schon einige Aufmerksamkeit erfahren. So gibt es z.B. aktuell ein von einer Gruppe deutscher Bibliotheken verfolgtes Projekt zur digitalen Langzeitarchivierung, das einen viel versprechenden Ansatz auf der Grundlage von P2P-Systemen verfolgt (DFG-Projekt LuKII). Es basiert auf einem Ansatz, der in den USA bereits seit Beginn der 2000er Jahre in einem Bibliotheksverbund unter Leitung der Stanford University Library verfolgt wird (LOCKSS). Es soll die Grundlage für eine sichere, effiziente und kostengünstige digitale Langzeitarchivierungsinfrastruktur schaffen.
Neben der Speicherung ist aber auch die Gewinnung und Auswahl der Dokumente für das kulturelle Erbe eine große Aufgabe. Sicherlich gehört nicht jede Twitter-Nachricht dazu, aber einige könnten vielleicht historisches Interesse finden. Wie filtern wir aus der ungeheuren Menge digitaler Daten die kulturell relevanten für die Archivierung heraus? Die Aufgabe ist verwandt mit der, aus großen Datenmengen die aktuell benötigten Erkenntnisse und Einsichten zu gewinnen. Dafür wurden und werden Techniken wie Data Mining, Text Mining, Maschine Learning und andere Methoden der Computational Intelligence entwickelt. Lassen sie sich auch sinnvoll für die kulturelle Archivierungsaufgabe verwenden?
Digitale Daten müssen in den Archiven nicht nur dauerhaft, sondern auch rechtssicher verwahrt werden. Sie müssen nicht nur vor Verlust geschützt werden, sondern auch vor Verfälschung und unberechtigtem Zugriff: ihre Authentizität und Integrität müssen bewahrt werden, und geschützte Daten müssen geschützt bleiben. Hier sind insbesondere schwierige Fragen des nationalen und internationalen Urheberrechts zu beachten.
Eine BWG-Kommission, die diesen und verwandten interdisziplinären Fragen nachgeht, könnte abseits der Hektik aktueller Forschungs- und Entwicklungsprojekte Bewusstsein für diese wichtigen und in der Zukunft eher wichtiger werdenden Probleme wecken.
Konkret wird angestrebt, einen Sammelband mit Beiträgen aus den Perspektiven verschiedener Fachrichtungen zusammenzutragen und zu veröffentlichen – selbstverständlich in einer möglichst haltbaren und langlebigen Form – mit dem Ziel, die Mitglieder der BWG und eine interessierte Öffentlichkeit über Sachstand und Entwicklungstendenzen zu informieren.